BQ 779 – 2/2024
„Wegweiser“ zu Jaques Offenbach ist im VKW erschienen

(Bonn, 13.01.2024) Im Verlag für Kultur und Wissenschaft (VKW) in Bonn ist ein umfangreicher Band zu Leben und Werk des deutsch-französischen Komponisten Jaques Offenbach (1819–1880) erschienen. Offenbach gilt als prägende musikalische und mentalitätsstiftende Gestalt des 19. Jahrhunderts und als Begründer der Operette.

In Jahrzehnte langer Arbeit hat der promovierte Pädagoge, Buchhändler und Privatgelehrte Dr. Ralph Fischer (1972–2022) fast jedes Werk des Komponisten besprochen und ausführlich dessen Familiengeschichte sowie seine jüdische Herkunft dargestellt. Der namenhafte Offenbach-Kenner Fischer verstarb im Jahr 2022 früh und hinterließ sein voluminöses Standardwerk unvollendet.

Der Offenbach-Spezialist Dr. Peter Hawig hat sich des Nachlasses angenommen, ihn ergänzt, überarbeitet, aktualisiert und in Zusammenarbeit mit dem Verlag für Kultur und Wissenschaft herausgegeben. An dem Werk käme niemand, der sich für Jaques Offenbach interessiere, vorbei, so der Herausgeber. Zusammenfassend stellt Fischer fest: „Das Buch ist von imponierendem Umfang und Gewicht und ist ein Fortschritt in der Offenbach-Forschung!“

Das imposante Werk mit einem Umfang von über 900 Seiten und mit 18 farbigen Abbildungen spürt in fünf großen Anläufen der Genealogie Offenbachs nach und ordnet sein Werk in die zeitgenössischen Gattungsentwicklungen und geistigen Diskurse ein. Darüber hinaus werden die kompositorischen Techniken und Verfahrensweisen vorgestellt, die sich in einem „Werkführer“ wiederfinden, der in diesem Umfang bis dato nirgendwo geleistet worden ist.

Interview mit dem Herausgeber Dr. Peter Hawig

BQ: Was war für Sie das überraschendste Neue beim Bearbeiten des Buches?

Dr. Peter Hawig: Ich kannte Herrn Fischer viele Jahre, Jahrzehnte lang. Ich wusste, was seine Lieblingsthemen waren: die jüdische Herkunft Offenbachs, die Katalogisierung des unübersichtlichen Gesamtwerkes, der Bonner Offenbach-Biograph Anton Henseler. Insofern hat mich der Gesamtaufriss des Buches nicht überrascht. Denn es gibt die durchlaufende Berufung auf Henseler, die ausführlichen Werkbesprechungen, die Genealogie. Wenn man das, aber auch die vielen anderen Themenkreise im Zusammenhang vor sich hat, ist man erschlagen von dem geballten Wissen, das sich da über die Jahrzehnte hin angesammelt hat, der Detailfülle, dem stupenden Überblick. Erst in der Länge und Breite der 926 Seiten erschließt sich die Fülle eines Lebenswerkes.

Die letzten deutschen Biografien liegen erst einige Jahre zurück, sie stammen aus dem „Offenbach-Jahr“ 2019, das letzte deutsche Werk zu Teilaspekten ist von 2018 (Ihr eigenes), zur weltweiten Rezeption Offenbachs von 2017. Was ist neu an Fischers Werk über das bisher Bekannte und Belegte hinaus?

Fischers Werk ist keine Biografie, sie enthält ein – vergleichsweise kurzes – biographisches Kapitel (S. 27–32). Fischers Werk ist, wenn man so will, in einem ersten großen Block eine Essaysammlung über die Familie Offenbach und ihre Herkunft, über das Genre der sog. „Operette“ (die Bezeichnung passt auf die meisten der Werke Offenbachs nur sehr bedingt), über die Schaffensweise des Komponisten und seine Kontexte innerhalb der Musikgeschichte. Neu ist die ungeheuer akribische Genealogie der Vorfahren Offenbachs, deren erste ja aus dem Dunkel des Ghettos kamen. Hier hat Fischer Basisarbeit geleistet und sich auf sehr schwer zu durchdringendes Terrain gewagt. Neu ist die konzise Zusammenstellung all dessen, was man über die Kompositionsweise Offenbachs weiß, neu sind die ausführlichen Darlegungen zu dem wuchernden Umfeld Offenbachs in Paris und anderswo bis hin zu dem „Humusboden“ der Kleinstoperetten in Konzertcafés. Fischer liebte die abgelegenen Wege, das, was der Mainstream der Forschung am Rande liegen ließ.

Offenbach verkörpert ein sehr modernes Problem, das der Identität. Aus einer jüdischen Familie stammend, dann in Frankreich enorm erfolgreich wirkend, bis hin zu dem Umstand, dass er im Deutsch-Französischen Krieg zwischen die Stühle geriet. Wirft Fischer neues Licht auf diese Fragen?

Neu an diesen Fragen ist bei Fischer der Kontext. Die Fragen als solche sind ja nicht neu, auch nicht die Befunde, dass Offenbach phasenweise diesseits wie jenseits des Rheins auf unterschiedliche Weise verdächtig war. Fischers unglaublicher Fleiß und das polypenhafte Ausgreifen seines Buches auf die unterschiedlichsten Exkurse und Kontexte machen erst das Existentielle des Identitätsproblems sichtbar. Man kann dieses als eine Art Forschungsgegenstand kühl konstatieren und analysieren. Bei Fischer aber wird es nacherlebbar, weil man so tief in Offenbachs Kosmos eingetaucht ist – zum Beispiel in die Auseinandersetzung mit Wagner und dessen verhängnisvollen Antisemitismus.

Die Hälfte des Buches ist ein komplettes Werkverzeichnis mit Werkführer, ein Lebenswerk für sich. Was ist neu daran, warum sollte ein Offenbach-Fan das besitzen?

Fischers Ehrgeiz war es, quasi jedes Werk Offenbachs zu besprechen – nicht jedes fragmentarische Blatt – und davon gibt es viele –, nicht jedes unvollständig hinterlassene Klavierstück, aber doch die Bühnenwerke (ca. 120), die Cellowerke – Offenbach war Cellist – und die Vokalmusik außerhalb der Bühne. Das Werkverzeichnis ist komplett, der Werkführer leider nicht. Wir machen ja keinen Hehl daraus, dass das Buch ein Torso ist, wenn auch ein gigantischer. Über der Besprechung von ca. 20 Werken ist der Autor gestorben, meiner Schätzung nach fehlen dem Buch ca. 120 Seiten. Wir haben mit Verweisen gearbeitet, wo das Fehlende anderweitig hilfsweise nachzuschlagen wäre. – Ein solcher Werkführer existiert für Offenbach nicht, ihn zu unternehmen ist schon für sich ein „wahnsinniges“ Unterfangen. Nirgendwo sonst sind die Cellowerke so gründlich besprochen. Und was die Bühnenwerke anlangt, so sind gerade die unbekannten Werke besonders zu akzentuieren. Beispiel: Wenn das Theater Münster zum Saisonende Doktor Ox herausbringen wird, möge es die Seiten 841–853 aufschlagen, es hat dann den passenden Überblick über das Stück und sein Umfeld und ist aller Sorgen fürs Programmheft ledig. Das bekommen Sie so nirgendwo.

Wer sind die Adressaten des Buches?

Zu jedem Komponisten gibt es eine eingeschworene Fangemeinde. Die meinen wir hier aber nicht. Das Buch Fischers ist verlässlich – es avisiert Intendanten, Regisseure, Dirigenten, Solisten. Das Buch ist flüssig geschrieben – es schreckt durch gute Lesbarkeit auch in den musikanalytischen Teilen nicht ab. Das Buch hat einen weiten Horizont und spricht damit auch andere Interessensgebiete an (Judaismus, Richard Wagner …). Das Buch ist meinungsfreudig und empathisch geschrieben – es ist geeignet, Proselyten zu machen.

Bibliografische Angaben

  • Peter Hawig (Hg.). Ralph Fischer. Zwischen den Paradiesen: Ein Wegweiser zu Jacques Offenbach: Herkunft und Leben, Werk und Wirkung. Sprach- und Kulturwissenschaft: Sectio V: Volkskunde und Germanistik, Bd. 7. Verlag für Kultur und Wissenschaft: Bonn, 2023. 926 S. Hardcover. ISBN 978-3-86269-269-9. 68 Euro.

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