Christine Schirrmacher hält einen Vortrag bei „Der Orient in Gotha“
(Bonn, 17.01.2025) Von September bis November 2024 lud die Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt unter dem Titel „Der Orient in Gotha“ zur Besichtigung von 48 Exponaten, vor allem Handschriften, ein. Gotha besitzt nach Berlin und München mit 3500 Exponaten die drittgrößte Sammlung orientalischer Handschriften in Deutschland. Im Rahmen des Begleitprogramms zur Ausstellung hielt Prof. Dr. Christine Schirrmacher im Spiegelsaal des Schlosses Friedenstein am 23. Oktober 2024 einen Vortrag unter dem Titel „Ein Kampf auf Leben und Tod: Die NS-Diktatur gegen den Orientalisten Paul Kahle (1875–1964)“.
Christine Schirrmacher forscht an der Universität Bonn seit mehreren Jahren zu Paul und Marie Kahle. Das Institut für Orient- und Asienwissenschaft der Universität Bonn zählt Kahle zu seinen bedeutendsten Professoren. Kahle nutzte auch den Handschriftenbestand der heutigen Forschungssbibliothek Gotha und bedankte sich mit der Widmung in einem seiner daraus entstandenen Bücher bei den Bibliothekaren von Gotha.
Paul Ernst Kahle (1875–1964) gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der Orientalistik des 20. Jahrhunderts. Er studierte ab 1894 Theologie in Halle und übte einige Jahre die Tätigkeit eines Pfarrers in Brǎila, Rumänien, und in Kairo aus, wandte sich dann aber ganz der Erforschung der Textgeschichte der Hebräischen Bibel und von hier aus der Orientalistik zu. Nach der Promotion in Theologie und Orientalistik wurde er 1914 auf einen ersten Lehrstuhl für Orientalische Philologie nach Gießen berufen, 1923 dann nach Bonn.
Sein Interesse blieb nicht auf den Sprachraum des Arabischen, Türkischen und Persischen beschränkt; er beschäftigte sich in seiner fast 70 Jahre umfassenden wissenschaftlichen Karriere auch mit der Geschichte des chinesischen Porzellans, mit Mineralogie, dem Schattenspieltheater in Ägypten und der Suche nach der lange Zeit verschollen geglaubten Seefahrerkarte von Christoph Kolumbus, die er zu Teilen in einem Archiv Konstantinopels wieder auffinden konnte.
In Bonn verbrachte Paul Kahle ab 1923 als Direktor des Orientalischen Seminars seine schöpferischsten Jahre, die 1938 mit der vorzeitig erzwungenen Beendigung seiner Universitätskarriere ein abruptes Ende fanden. Kurze Zeit später konnte die ganze Familie Kahle die Flucht nach England antreten und damit in letzter Sekunde den Häschern des Dritten Reiches entkommen. In England begann Paul Kahle nach anfänglichen Schwierigkeiten eine zweite wissenschaftliche Karriere, forschte, publizierte und erhielt zahlreiche Ehrungen, bevor er 1963 nach Deutschland zurückkehrte und 1964 starb.
Paul Kahles Ehefrau Marie war eine entschiedene Gegnerin des NS-Regimes. Nach der Machtergreifung im Jahr 1933 hatte sie mehrfach jüdischen Mitbürgern beigestanden und zeitweise einen jüdischen Studenten in ihrem Haus versteckt. Auch den jüdischen Bonner Geographen Prof. Alfred Philippson (1864–1953) und seine Frau nahm sie vorübergehend in ihr Haus auf, als Anfang November 1938 in Bonn die Brandstiftungen, Pogrome und Plünderungen jüdischer Geschäfte und Häuser begannen. Marie Kahle konsultierte jüdische Ärzte, nachdem dies längst nicht mehr als opportun betrachtet wurde, und weigerte sich entschieden, ihre fünf Söhne der Hitlerjugend beitreten zu lassen.
Nachdem in Bonn am 10.11.1938 die fünf Synagogen der Stadt in Brand gesetzt worden waren und die älteren Söhne der Familie Kahle jüdische Familien aufsuchten, um deren Besitztümer im Haus Kahle vor Raub und Zerstörung zu verstecken, besuchte auch Marie Kahle gemeinsam mit ihrem ältesten Sohn Wilhelm das verwüstete Korsettgeschäft der jüdischen Inhaberin Emilie Goldstein in Bonn und half ihr bei den Aufräumarbeiten. Dabei wurden ihre Namen von einem Bonner Polizisten aufgenommen und ihr Handeln am 17.11.1938 im „Westdeutschen Beobachter“ als „Verrat am Volk“ angeprangert. Willhelm Kahle, Student der Musikwissenschaft, wurde am 6.12.1938 „wegen unwürdigen Verhaltens gelegentlich der Protestaktion gegen die jüdischen Geschäfte“ zwangsexmatrikuliert, was für alle Universitäten Deutschlands galt.
Die ganze Familie wurde nun verfolgt, schikaniert und bedroht. Marie Kahle wurde von einem Parteimitglied der Selbstmord nahegelegt und ihr die psychische und physische Vernichtung ihrer ganzen Familie angekündigt. Am Abend des 31. März 1939 gelang es Marie Kahle buchstäblich in allerletzter Minute, ihre fünf Söhne und ihren Ehemann zur Ausreise nach England zu bewegen. Nur Stunden später, am 1.4.1939, trat ein Erlass in Kraft, der Jugendlichen, die keine Mitglieder der Hitlerjugend gewesen waren, die Ausreise aus Deutschland grundsätzlich untersagte, was alle fünf Kahle-Söhne betroffen hätte.
Veröffentlichungen von Christine Schirrmacher zu Marie und Paul Kahle
- Christine Schirrmacher. „Der Theologe und Orientalist Paul Kahle (1875–1964) in den Speichen der NS-Diktatur.“ In: Harald Meyer, Christine Schirrmacher, Ulrich Vollmer (Hg.). Die Bonner Orient- und Asienwissenschaften: Eine Geschichte in 22 Porträts. Ostasien-Verlag: Gossenberg, 2018, S. 85–116.
- Christine Schirrmacher. „Marie Kahle (1893–1948): Bonner Professorengattin, Pädagogin und Gegnerin des NS-Regimes.“ In: Andrea Stieldorf, Ursula Mättig, Ines Neffen (Hg.). Doch plötzlich jetzt emanzipiert will Wissenschaft sie treiben. Frauen an der Universität Bonn (1818–2018). V&R Unipress: Göttingen, 2018, S. 137–164.
- Christine Schirrmacher. „Der Geisterklub der Bonner Universität – Zirkel schwarzer Magie oder professorale Ideenbörse?“ In: Jeanine Bischoff, Petra Maurer, Charles Ramble (Hg.). On a Day of a Month of the Fire Bird Year. Festschrift for Peter Schwieger on Occasion of his 65th Birthday. Lumbini International Research Institute: Bhairahawa, 2020, S. 669–689.
- Christine Schirrmacher. Paul Kahle’s Wrong Career Choice? The Study of Theology and Service as a Pastor as Indispensable Prerequisites for Paul Kahle’s Career as a World-Class Researcher. In: Historical Interactions of Religious Cultures (HIReC) 2/2024, S. 1–19 (im Erscheinen begriffen).
Downloads und Links
- Foto 1 und Foto 2: Prof. Dr. Christine Schirrmacher während ihres Vortrags © Dr. Feras Krimsti
- Foto 3: Wohnhaus von Paul Kahle in Bonn © Thomas Schirrmacher
- Foto 4: Gedenkplakette an Marie Kahle am Wohnhaus in Bonn © Thomas Schirrmacher
- Ausstellung mit Begleitprogramm: https://uepo.de/?p=38571
- Flyer zur Ausstellung und zum Begleitprogramm: https://www.uni-erfurt.de/fileadmin/Bilddatenbank/Veranstaltungen/Poster_Flyer/Flyer_Ausstellung_Der_Orient_in_Gotha.pdf