BQ 848 – 28/2025
Der Papst der Überraschungen

Lobende und problembewusste Worte eines Freundes

(Bonn, 22.04.2025) Im Folgenden wird der Nachruf auf Papst Franziskus von Erzbischof Thomas Paul Schirrmacher wiedergegeben:

Ich hatte mit Papst Franziskus in offiziellen Funktionen ganz unterschiedlicher Art zu tun, sowohl für die Weltweite Evangelische Allianz als auch für die International Society for Human Rights. Ich habe ihn bei drei Staatsbesuchen begleitet. Zugleich habe ich ihn häufiger privat in Santa Marta besucht, oft zu seinem Geburtstag. In den letzten Jahren kam dann der interreligiöse Dialog mit islamischen Staaten dazu, wo ich auch oft anwesend war. Das Ungewöhnlichste war sicher, dass wir uns bei den rein privaten Treffen in Santa Marta langsam auf Deutsch duzten und unterhielten und miteinander beteten. Dass das Ende nahte, brachte der Papst in seiner unnachahmlichen humorvollen Art jüngst zum Ausdruck, als er kaum noch hörbar scherzte: „Heute keine Kaffeepause mit dem Papst“. Mein gleichnamiges Buch hatte er in der deutschen Fassung kommentiert, die englische Fassung erschien sowieso nur im Internet.

Seit meinem Buch „Kaffeepausen mit dem Papst“ von 2016 ist nicht nur ein Jahrzehnt vergangen, sondern das Pontifikat von Papst Franziskus hat seitdem auch eine etwas andere Richtung genommen. Der Schwerpunkt wanderte vom interkonfessionellen Dialog zum Dialog mit dem (Staats-)Islam und von der Evangelisation zur breiteren Aufforderung an alle Menschen, respektvoll zueinander zu sein.

Sein Leben bis zur Papstwahl

Jorge Mario Bergoglio SJ wurde am 17.12.1936 in Buenos Aires als ältestes von fünf Kindern geboren, vier Jahre, nachdem sein Vater aus Italien eingewandert war. Er lernte Chemietechniker, trat 1958 den Jesuiten bei und wurde 1969 zum Priester geweiht. Von 1980 bis 1986 war Bergoglio Rektor der Theologischen Fakultät von San Miguel.

1986 ging er an die vom Jesuitenorden getragene Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main, um zu promovieren. Seine Dissertation über Romano Guardinis philosophisches Hauptwerk Der Gegensatzblieb unvollendet, weil ihm – wohl als Disziplinarmaßnahme – die Rückkehr nach Argentinien befohlen wurde, der Papst trauerte der Arbeit bis zum Schluss hinterher. Als Besucher eines Deutschkurses am Goethe-Institut lebte er von August bis Oktober 1986 in Rothenburg ob der Tauber. Seitdem spricht der Papst neben Spanisch und Italienisch auch etwas Deutsch, was nichts anderes heißt, als dass er die Sprache jahrzehntelang warmgehalten hat.

Bergoglio war nun irgendwie bei den Jesuiten Persona non grata geworden und war seinerseits schlecht auf die Jesuiten zu sprechen. Man hatte ihn aus bisher kaum erforschten Gründen als Leiter der großen jesuitischen Hochschule in der Nähe von Buenos Aires abgesetzt und schließlich 1990-1992 ins jesuitische Exil nach Cordoba geschickt, inklusive Verbot, öffentliche Messen zu feiern. Hätte ihn der Erzbischof von Buenos Aires nicht 1992 überraschend um Weihbischof geweiht, wäre er nach dem Wunsch der Jesuiten dort wohl bis zu seinem Lebensende versauert.

1997 wurde er Erzbischof Koadjutor von Buenos Aires, also Stellvertreter des Erzbischofs, der automatisch bei Rücktritt oder Tod die Nachfolge antritt. Dass der Erzbischof und Kardinal Antonio Quarracino schon neun Monate später tatsächlich plötzlich starb, kam unerwartet, und so wurde Bergoglio schon 1998 Erzbischof von Buenos Aires. 2001 wurde er zum Kardinal ernannt.

Beim Konklave 2005, das Papst Benedikt wählte, hatte er bereits die zweitmeisten Stimmen, trat dann aber in der nächsten Wahlrunde nicht mehr an, so dass Ratzinger eine Zweidrittelmehrheit bekommen konnte.

Nach dem Rücktritt von Papst Benedikt wurde er deswegen recht schnell und unkompliziert am 13.3.2013 zum Papst gewählt und nahm zu Ehren des katholischen Heiligen Franz von Assisi (1181–1226) den Namen Franziskus an, ungewöhnlich, weil seit Jahrhunderten neugewählte Päpste die Namen ihrer Vorgänger wählten und kombinierten.

Es war und ist meines Erachtens übertrieben, ihn nur zum ersten rein lateinamerikanischen und nichteuropäischen Papst zu erklären, auch wenn natürlich das lateinamerikanische Temperament in seinen öffentlichen Auftritten, seinen Schriften und im persönlichen Umgang greifbar ist. Er spricht so gut Italienisch wie Spanisch, und er wäre meines Erachtens wohl kaum gewählt worden, wenn er nicht italienischer Abstammung gewesen wäre. Die Familie seines Vaters floh 1929 vor dem Faschismus in Italien nach Argentinien. Seine Mutter stammte ebenfalls aus einer italienischen Familie. Auch als Jesuit lebte er zunächst in einer italienisch geprägten Struktur, die straff von Rom aus geführt wurde, die ihn dann aber schließlich an den Rand drängte.

Der einzige andere Einfluss außerhalb Lateinamerikas und Italiens kam literarisch und durch seinen Aufenthalt für eine Dissertation aus Deutschland, dem Land seines Vorgängers, und war damit auch europäisch.

Thomas Schirrmacher im Gespräch mit Papst Franziskus 2015 © Thomas Schirrmacher

Seine Enzyklika und Bücher

Papst Franziskus hat drei Enzykliken verfasst:

  1. Lumen fidei – Licht des Glaubens (2013), geht auf einen Entwurf von Papst Benedikt zurück und ist die erste Enzyklika, die den Glauben als Ganzes behandelt.
  2. Laudato si– Gelobt seist du (2015), ist die sogenannte Umweltenzyklika.
  3. Fratelli tutti – Über die Geschwisterlichkeit (2020).

Hier gibt es eine deutliche Entwicklung von fast protestantisch zu nennenden Bibelarbeiten hin zu Enzykliken, die sich an alle Menschen guten Willens wenden und deswegen immer weniger biblisch-theologisch argumentieren. Fratelli tutti(2020) etwa gibt dann sogar an, das Meiste vom Rektor der wichtigsten islamischen Hochschule, der Al-Ahzar in Kairo, Großscheich Ahmad Mohamed al-Tayyip, gelernt zu haben.

Eine ähnliche Entwicklung zeigen die Apostolischen Schreiben, deren Stellung nicht ganz so hoch ist, von denen es recht viele gibt und die zum Teil auch Fragen der Organisation des Vatikans behandeln, die Amtsenthebung wegen sexuellem Missbrauch regeln (2016, 2023) oder etwa die Bedeutung der Weihnachtskrippe (2019) oder die Verehrung der heiligen Theresia vom Kinde Jesu (2023) behandeln. Interessant für Protestanten und Evangelikale sind dabei die frühen Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium – Freude der Guten Nachricht (2013) über das Evangelisieren und Aperuit illis zur Einführung des Sonntags des Wortes Gottes (2019). Wie bei den Enzykliken liegen die eher biblisch-innertheologischen Schreiben in der ersten Hälfte seiner Amtszeit.

Daneben sind die für einen Papst ganz untypischen vielen Interview- und Gesprächsbände, wobei die ersten schon erschienen, bevor er Papst wurde. In ihnen hat er zum Teil berühmt gewordene Statements gemacht, die außerhalb der offiziellen katholischen Lehre liegen und die dann zum Teil Vatikanbehörden mühsam einfangen und erklären mussten. Dasselbe gilt für berühmt-berüchtigten Antworten in Gesprächen und Interviews mit Journalisten im Flugzeug.

Selbst seine Autobiografie von 2024 (Leben – meine Geschichte in der Geschichte) ebenso wie der Vorläufer von 2010 (Deutsch 2013 Mein Leben, mein Weg) sind eine Mischung von Interviews und Erläuterungen der Interviewer.

Das undogmatischere Auftreten hatte Vor- und Nachteile

Indem der Papst theologisch undogmatischer auftrat, hat er einerseits Entwicklungen angestoßen, die Evangelikale sehr begrüßt haben, andererseits Entwicklungen angestoßen, die ihnen große Sorge bereitet haben.

Das liegt bei ihm in der Natur der Sache, denn der teilweise lockere Umgang betraf gleichermaßen christliche Wahrheiten und Werte, die den Katholiken sozusagen „heilig“ sind (und wo dann die Protestanten sich über Änderungen freuten), wie solche, die den konservativen Protestanten und Evangelikalen „heilig“ sind, was diese dann schockierte. Dazu kommt natürlich die bereits erwähnte Entwicklung, dass der Papst in der ersten Hälfte seiner Amtszeit stark auf die Protestanten zuging, dies dann in der zweiten Amtszeit aber durch die Beziehung zum (staatlichen) Islam ablöste, oder um es mit den Worten von Michael Meier zu sagen: „Tauwetter mit dem Islam, Entfremdung mit den Protestanten“ (157).

Der Papst hat viele auch theologische und tiefgreifende Änderungen vorgenommen, ohne den schriftlichen und dogmatischen Bestand der katholischen Kirche an sich zu verändern. Nun ändert die katholische Kirche so oder so nie den Altbestand ihrer Überlieferung, aber immerhin hat sie oft veraltete Sichtweisen kurzerhand durch neue ersetzt, etwa als das Zweite Vatikanische Konzil die Religionsfreiheit zur Kirchenlehre erhob, die die katholische Kirche Zwei Jahrhunderte heftig bekämpft hatte.

Sollte sein Nachfolger solche Änderungen in der Praxis übernehmen, werden sie auf Dauer Bestand der Kirche, sollte der Nachfolger diese Änderungen nicht unterstützen, kann er sie aber auch unbesehen fallen lassen.

Ein typisches Beispiel ist die Verschiebung bzw. Verbannung der meisten Hoheitstitel des Papstes, die noch unter Benedikt groß auf dem Titelblatt des Päpstlichen Jahrbuchs standen, auf die Rückseite des Jahrbuchs unten im Kleindruck. Der Umgang mit den Titeln im Jahrbuch entspricht schon lange der Alltagspraxis des Papstes, der sich immer nur als „Bischof von Rom“ bezeichnet und die anderen Titel eigentlich nie nutzt, so dass sie, wenn überhaupt, nur in amtlichen Dokumenten erscheinen. Damit ist ja der Anspruch des Papstes nicht verschwunden, aber der Papst geht gewissermaßen 1000 Jahre in der Geschichte zurück.

Allerdings ist es auch typisch für Franziskus, wie er das Ganze angeht, einerseits so, dass es so aussieht, als wenn er die Titel nur noch als historische Reminiszenzen sieht, andererseits so, dass er seinen konservativen Kritikern gegenüber so tun kann, als wenn es nur um eine neue optische Darstellung ginge. Franziskus schafft einerseits Fakten, andererseits widerruft die katholische Kirche offiziell nie, was sie einst als Wahrheit beschlossen hat, selbst wenn sie das Gegenteil beschließt und das änderte sich auch bei Franziskus nicht.

So zweifelt Franziskus an, ob er wirklich der Vicarius Iesu Christi, Stellvertreter Jesu Christi ist, wenn er davon spricht, dass die ganze Kirche und jeder, der das Evangelium verkündigt, Jesus Christus vertritt. Die dogmatische Konstitution Lumen gentium des Zweiten Vatikanischen Konzils bezieht diesen Titel sowohl auf den Papst mit Blick auf die Gesamtkirche (LG 18,2) als auch auf den einzelnen Bischof mit Blick auf die ihm anvertraute Teilkirche (LG 27,1). Der Codex Iuris Canonici von 1983 dagegen verwendet den Titel ausschließlich für den Papst, was typisch für Johannes Paul II. war, aber dogmatisch nicht abgedeckt ist. Das Kirchenrecht kann jederzeit vom Papst geändert werden, aber Franziskus wählt den auffälligeren Weg über das Jahrbuch.

Wie in vielen anderen Fragen muss man sich als Evangelischer also entscheiden: Sieht man die katholische Kirche durch die Brille ihrer nie widerrufenen historischen lehramtlichen Entscheidungen, vor allem im 16. und im 19./20. Jh., oder sieht man sie durch die Brille des (jeweils) amtierenden Papstes. Beide Sichtweisen sind berechtigt, beide widersprechen sich zugleich, weil die katholische Kirche selbst hier in einem Widerspruch gefangen ist. Millionen Katholiken lösen das Problem, indem sie die Geschichte ignorieren und nur den ‚modernen‘ Papst sehen, Millionen Katholiken lösen das Problem, indem sie sagen, dass die historischen Dokumente gelten und deswegen Papst Franziskus eigentlich das Papsttum verrät.

Bei seiner Amtseinführung auf dem Petersplatz sprach der Papst anders als das offiziell ausgegebene Textprogramm, dass die Protestanten gemäß Zweitem Vatikanischen Konzil nur unter „kirchliche Gemeinschaften“ führte, indem der Papst die Anwesenden protestantischen Kirchenfüher zusammen mit den anderen als Leiter der „anderen Kirchen“ begrüßte, was er später häufiger widerholte, was sich auch im gleichwertigen Umgang etwa von orthodoxen und evangelikalen Führern äußerte – am dogmatischen Bestand änderte er jedoch nichts.

Selfie mit dem Papst anlässlich der Übergabe der Jahrbücher 2017 © BQ/Martin Warnecke

Das Beispiel der „Rechtfertigung allein aus Glauben“

Der Papst war geradezu ein ‚Fan‘ der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigung“ von 1998 zwischen Lutherischem Weltbund und dem Päpstlichen Rat für die Einheit der Christen.

Die gemeinsame Rechtfertigungserklärung galt weltweit als gewaltiger Fortschritt. Der damalige Präfekt der Glaubenskongregation, Josef Kardinal Ratzinger, erklärte allerdings, die Erklärung könne nie und nimmer irgendeine frühere Konzilsentscheidung – etwa des Konzils von Trient – aufheben. Immerhin, und das scheint mir das Entscheidende zu sein, stellte er die Richtigkeit der Rechtfertigungsdefinition der Erklärung nicht in Frage.

Franziskus übergeht einfach die Frage, was das alles für das Konzil von Trient bedeutet, und knüpft daran an, dass es eine gemeinsame Beschreibung dessen gibt, was als die biblische Lehre von der Rechtfertigung angesehen wird.

„In jeglicher Form von Evangelisierung liegt der Vorrang immer bei Gott, der uns zur Mitarbeit mit ihm gerufen und uns mit der Kraft seines Geistes angespornt hat.“ (EG 12)

„Durch ihr evangelisierendes Tun arbeitet sie mit als Werkzeug der göttlichen Gnade, die unaufhörlich und jenseits jeder möglichen Kontrolle wirkt. Benedikt XVI. hat dies treffend zum Ausdruck gebracht, als er die Überlegungen der Synode eröffnete: ‚Daher ist es wichtig, immer zu wissen, dass das erste Wort, die wahre Initiative, das wahre Tun von Gott kommt, und nur indem wir uns in diese göttliche Initiative einfügen, nur indem wir diese göttliche Initiative erbitten, können auch wir – mit ihm und in ihm – zu Evangelisierern werden.‘“ (EG 112) – direkte Fortsetzung:

„Das Prinzip des Primats der Gnademuss ein Leuchtfeuer sein, das unsere Überlegungen zur Evangelisierung ständig erhellt.“ (EG 112) Man bedenke: „Primat“ ist in der katholischen Sprache eigentliche eine Beschreibung der Vorrangstellung des Papstes!

In seiner Ansprache in einer Pfingstgemeinde in Caserta am 28.7.2014 sagte Papst Franziskus: „Aber das schönste, das größte Geheimnis ist: Wenn wir Jesus finden, merken wir, dass er uns als Erster gesucht hat, dass er uns als Erster gefunden hat, denn er kommt vor uns an!“

Sein Umgang mit dem Ablass gehört ebenfalls hierher. Einerseits hat er den Ablass im Rahmen der von ihm verkündigten Heiligen Jubiläumsjahre – in dem neuesten sind wir derzeit noch – in den Mittelpunkt gestellt. Doch schon bei der ersten ‚Verkündigungsbulle‘ des außerordentlichen Jubiläumsjahres der Barmherzigkeit findet sich der Ablass nur beiläufig erwähnt, nämlich nur in § 22 von 24 Paragraphen. Das ist umso erstaunlicher, als das Jubiläumsjahr vor über 600 Jahren als Ablassjahr erfunden wurde. Nach vielen Seiten zur Barmherzigkeit heißt es dagegen fast entschuldigend: „Ein Jubiläum bringt es mit sich, dass wir auch auf den Ablass Bezug nehmen. Dieser gewinnt besondere Bedeutung im Heiligen Jahr der Barmherzigkeit.“ Doch was dann als Ablass beschrieben wird, hat nur noch entfernt mit der klassischen katholischen Ablasstheologie zu tun („trotzdem bleiben negative Spuren“). Immerhin schenkt der Vater die Barmherzigkeit und Vergebung „durch die Kirche“. Zudem ist Franziskus insgesamt nicht weit davon entfernt, einfach allen Gläubigen den Ablass zu gewähren. Denn es ist eine uralte Streifrage, warum der Papst, wenn er die Macht hat, allen einen Ablass zu gewähren, dies nicht einfach tut. In der Broschüre der Deutschen Bischofskonferenz, die „Das Heilige Jahr” vorstellt, kommt der Ablass einfach überhaupt nicht mehr vor.

Was ich für die positiven Seiten seines Wirkens halte

Es scheint vermessen zu sein, eine Liste positiver und negativer Wirkungen des Papstes aufzulisten. Immerhin ist das dann doch eine detailliertere Würdigung als die meisten Nachrufe, die sich nur einige wenige Elemente herausgreifen. Zudem wird dabei die enorme Wirkungsbreite des Papstes deutlich.

  • Er hat die Korruption im Vatikan und die Kooperation mit der Mafia massiv bekämpft, zum Teil auch unter Lebensgefahr.
  • Er hat die Entstaatlichung des Vatikans und seiner völkerrechtlichen Entsprechung, dem Heiligen Stuhl, die sein Vorgänger begonnen hatte, fortgeführt, etwa in dem der Vatikan bei der UN nicht mehr mit abstimmt oder die italienische Polizei jetzt das Gewaltmonopol im gesamten Vatikan hat, so dass die Schweizer Garde ohne Schusswaffen arbeitet. Das gilt, obwohl er gleichzeitig tagespolitisch sehr aktiv war und massiv als politisches Weltgewissen auftrat.
  • Er hat das Verhältnis zu nichtchristlichen Religionen entkrampft. Das gilt insbesondere für das Judentum (als Religion, weniger für Israel als Staat) und den Islam (siehe aber meine Kritik unten.) Der Preis für die menschliche und politische Entkrampfung war allerdings theologische Unklarheit, so etwa, wenn Religionen als verschiedene Wege zu Gott bezeichnet wurden, so wie es auch mehrere Sprachen gibt, auch wenn Franziskus weiterhin die Notwendigkeit der Evangelisierung betont hat und erst kürzlich das Dikasterium für Evangelisation in der Hierarchie der päpstlichen Institutionen vor die für Dogma und Moral zuständige Glaubenskongregation gestellt hat.
  • Er hat das Verhältnis der globalen katholischen Kirche zu Evangelikalen und Pfingstlern entkrampft, wenn er auch zunehmend das Interesse an der Thematik verlor, je mehr er sich dem interreligiösen Dialog zuwandte. Die Entkrampfung führte real dazu, dass in vielen Ländern mit katholischer Mehrheit der Druck auf protestantische Minderheiten nachgelassen hat und die katholische Kirche heute oft mit Evangelikalen zusammen gegenüber Regierungen auftritt, statt mit der Regierung gegen sie zu arbeiten.
  • Er hat sehr häufig auf die Katastrophe der Christenverfolgung hingewiesen, auch wenn er das Thema nie irgendwo im Vatikan oder in der katholischen Kirche institutionalisiert hat. Immer wieder betonte er die Notwendigkeit der Zusammenarbeit der Kirchen, da alle ihre Märtyrer im Himmel gemeinsam die Wolke der Zeugen bilden. Die „Ökumene der Märtyrer“ wurde zum einprägsamen Schlagwort.
  • Der Vatikan war vor Jahrhunderten der Erfinder der Botschafter-Diplomatie, weswegen in vielen Ländern der Nuntius, der Botschafter des Heiligen Stuhls, bis heute den Ehrenvorsitz aller Diplomaten hat. Die immer noch sehr verschwiegene Diplomatie ist vielleicht die stärkste Waffe der katholischen Kirche und erreicht viel Gutes. Man denke etwa, dass der Vatikan die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen den USA unter Präsident Obama und Kuba unter Präsident Raul Castro ermöglichte. In der ersten Hälfte der Amtszeit setzte sich die Vatikandiplomatie auch vermehrt für nichtkatholische Christen ein, wovon ich ein Lied singen kann, in der zweiten Amtszeit ebbte das etwas ab.

Was ich für eher problematische Seiten seines Wirkens halte

  • Während Papst Benedikt sich deutlich am republikanischen Ende des politischen Spektrums der USA aufstellte, etwa, indem er ein persönliches Verhältnis zu Präsident George W. Bush unterhielt und diesen sogar privat zum Geburtstag in den USA besuchte, stellte sich Papst Franziskus am anderen Ende auf und war während seiner USA-Reise eindeutig, ja bisweilen brüskierend, für die Demokraten und gegen die Republikaner und sprach sich für den Präsidentschaftskandidaten und Präsident Biden aus, obwohl die katholische Bischofskonferenz hier völlig anders dachte und Biden exkommunizieren wollte. Erstaunlich war deswegen, dass er die letzte politische Audienz seines Lebens dem amerikanischen Vizepräsident J. D. Vance gewährte.
  • Kein Wunder, dass er im Bereich Politik und Wirtschaft als linksorientierter Papst wahrgenommen wurde. Im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern hat er Kommunismus und Sozialismus nie wirklich kritisiert, dafür aber den Kapitalismus („diese Wirtschaft tötet“), Wirtschaftsliberalismus, Konsumismus. Seine ausschließliche Stellungnahmen zugunsten aller Flüchtlinge und Asylanten und ihrem Recht, überall einwandern zu dürfen, oder zugunsten eines totalen Einsatzes gegen Klimawandel, zu bezahlen von den Industriestaaten, war oft so tagespolitisch, dass das spezifisch Christliche oder Katholische dahinter kaum zu erkennen war. VaticanNews veröffentlicht täglich ein Dutzend Stellungnahme zu fast jedem wichtigeren politischen Ereignis der Welt, was man sowohl als wertvolles Engagement, als auch als völlige Entwertung eines der medienwirksamsten Ämter der Welt sehen kann, zumal fast alle Kommentare vorhersagbar und überwiegend ‚politisch korrekt‘ waren – vielleicht vom Thema Abtreibung und weniger deutlich vom Thema Sexualität einmal abgesehen.
Papst Franziskus an seinem Geburtstag im Jahr 2023 in seinem Haus © Thomas Schirrmacher

Traditionell galten die Päpste als politisch konservativ und „rechts“. In seiner Umwelt­enzyklika und vielen weiteren Texten, Reden und Auftritten hat Franziskus eine eher als „links“ verstandene politische Agenda gefordert und gefördert, bis an den Punkt, dass die direkte Verbindung zu einer theo­logischen Grundlage schwer erkennbar war. In seiner Enzyklika Fratelli tutti argu­mentiert er dann weit­gehend untheologisch und führt mehrfach den Chef der Al-Ahzar-Universität in Kairo, Al-Tayyib, als seinen Kronzeugen an, obwohl dieser sich zu den Themen gar nicht öffentlich geäußert hat. Es ist die untheologischste Enzyklika, die je ein Papst geschrieben hat. Natürlich ist grundsätzlich zu begrüßen, dass der Papst für Frieden eintritt und die Würde der Person gegen Pöbeleien und Schlimmeres im Internet verteidigt. Aber Vieles ist auch nur noch ‚politisch korrekt‘ und unterscheidet sich kaum von guten Essays in einer Tageszeitung.

  • In diesem Zusammenhang ist auch sein Deal mit China zu erwähnen. Der Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und China ist immer noch geheim, läuft aber darauf hinaus, dass China entscheidet, wer Bischof wird und der Vatikan nach kurzer Wartezeit automatisch zustimmt, während gleichzeitig katholische Bischöfe im Gefängnis sitzen und der Teil der katholischen Kirche, der sich nicht fügt, schwer bedrängt wird, ohne dass der Vatikan einschreitet. Das ist umso ungewöhnlicher, als der Vatikan schon immer, aber speziell ab etwa 1800 dafür gekämpft hat, dass die Berufung eines Bischofs durch den Papst Vorrang sowohl vor allen Entscheidungen von Staaten hat, ja sogar Vorrang vor lokalen Wahltraditionen innerhalb der katholischen Kirche.
  • Der Dialog mit dem Islam überlagerte mehr und mehr den innerchristlichen Dialog wie auch den Dialog mit anderen Religionen. Dabei findet der Dialog ausschließlich mit Vertretern eines staatlichen Islam statt. Es findet weder ein Dialog mit Imamen statt, die aus Ländern wie Deutschland kommen, wo der Islam nichtstaatlich organisiert ist, noch mit islamischen Bewegungen, die von den islamischen Staaten verurteilt werden, wie die Ahmadiyya. Das macht deutlich, dass der Papst nicht vor allem der Linie der Religionsfreiheit folgt und sich für alle religiösen Minderheiten einsetzt. Der vom Papst in Fratelli tutti als Kronzeuge zitierte Al-Tayyib, den der Papst oft traf – ich war mehrfach dabei in der Nähe – ist eben vor allem Staatskleriker.
  • Der Versuch des Papstes, seine Rolle als möglicher Vermittler zwischen Russland und der Ukraine aufrechtzuerhalten, geschah um den Preis, dass er weder die unsägliche Rede vom Heiligen Krieg des Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche angriff, noch Russland wegen eines Angriffskrieges anklagte. Vergleicht man etwa die heftige Kritik an Israel mit der an Russland, wundert man sich über die Unausgewogenheit.
  • Im Falle von Israel war der Papst nicht ganz so einseitig pro-palästinensisch wie der Vatikan in seiner Geschichte, doch eine Verurteilung der Morde vom 7.10.2023 als terroristischer Akt kam ihm nicht über die Lippen. Der Papst bemüht sich, angesichts seiner Kritik an Israel den Juden seine Wertschätzung zu versichern, was ein Teil der Juden sehr schätzte, ein anderer Teil als Schönfärberei verstand.

Der Papst hat zu vielen Themen viel versprochen und bei einigen dann wenig gehalten

Nun soll das keine billige Kritik sein, auch ein Papst kann in zwölf Jahren nicht alles erreichen, was er möchte, erst recht nicht, wenn er eine derartig breite Reformagenda vorgibt, die praktisch alles umfasst, was den Vatikan und die Katholische Kirche betrifft.

  • Das beste Beispiel ist die Amazon-Synode, zu der der Papst selbst weitreichende Erwartungen weckte, vor allem die Aufhebung des Zölibats für die Region. Obwohl er für alle Wünsche dafür sogar die vorgeschriebene Zweidrittelmehrheit auf der Synode erhielt, erwähnt das vom Papst verfasste Abschlussdokument keine der Forderungen, geschweige denn, dass es zu irgendeiner nennenswerten Änderung gekommen wäre. (Es sei angemerkt, dass in den orientalisch-katholischen Teilen der katholischen Kirche wie im Nahen Osten oder der Ukraine verheiratete Priester zugelassen sind.)
  • Beim sogenannten Frauendiakonat, dass die katholische Kirche jahrhundertelang kannte und dass die Orthodoxen Kirchen aufgrund der Tradition wiederbelebt haben, kündigte der Papst immer neue Kommissionen an, keine hat bisher auch nur den Weg dorthin beschrieben. Beobachter dachten am Anfang, dass der Papst das Frauendiakonat recht schnell einführen werde, am Ende sah nichts danach aus, als wenn es hier irgendeine Bewegung geben könne. Michael Meier spricht von einer „Endlosschleife“.
  • Im Falle der Homosexualität wurden alle enttäuscht, die sich weitreichende Änderungen erhofft haben, sie sind allesamt ausgebelieben. Gleichzeitig hat der Papst aber so viele Seitenbemerkungen zum Thema oder missverständliche Entscheidungen getroffen (wie etwa, dass gleichgeschlechtliche Paare gesegnet werden dürfen, aber gewissermaßen nur sekundenlang und nicht als Paar), dass alle, die begrüßen, dass es keinerlei Veränderungen gibt, trotzdem verärgert sind.
  • Gemischt ist die Bilanz rund um das Thema sexueller Missbrauch durch Geistliche und das Vorgehen sowohl gegen Täter als auch gegen Kirchenführer, die diese Täter gedeckt haben oder nichts unternehmen haben, was den Opfern gerecht geworden wäre. Einerseits hat Franziskus unermüdlich an dem Thema gearbeitet und Gewaltiges erreicht. Dabei hat er erstmals keine Rücksicht auf den Rang der Täter und der gegen sie Untätigen genommen, auch ranghöchste Kardinale mussten – erstmals 2018 – zurücktreten oder wurden ausgeliefert, und unter lebenden und sogar verstorbenen Gründern und Führern geistlicher Bewegungen wurde aufgeräumt, ihre Leitungsstrukturen wurden völlig neu gestaltet.
    Andererseits fehlte oft der letzte Schritt, etwa die Verpflichtung, den Staat auch dann einzuschalten, wenn das in einem Land nicht Gesetz ist, oder der Forderung der Opferverbände nachzugeben, Instanzen auch mit professionellen Laien zu besetzen, um – so Franziskus häufig – dem „Klerikalismus ein Ende zu bereiten“. Zudem hat man das Empfinden, das die Frage nach den systematischen Ursachen des gewaltigen Ausmaßes nicht gestellt wurde, etwa als in Frankreich 11 amtierende und emeritierte Bischöfe, darunter zwei Kardinäle, zu Recht angeklagt wurden. Eng damit verbunden ist, dass es in der Struktur der Katholischen Kirche liegt, dass der Papst selbst nicht angeklagt werden kann, aber durchaus schützend seine Hand vor Kleriker gehalten hat, wenn er sich überhaupt nicht vorstellen konnte, dass es sich um Täter handelte. In fast allen Fällen hat sich der Papst deutlich öffentlich entschuldigt, zuletzt hat er aber dem vom Jesuitenorden ausgeschlossenen und von der Glaubenskongregation laisierten slowenischen Pfarrer und begnadeten Künstler mit Kirchenfenstern in aller Welt – und deswegen Lieblingskünstler des Papsates –, Marko Ivan Rupnik, wenige Wochen später vergeben und ihn wieder zum Priester eingesetzt.
  • Der Papst hat de facto den Zentralismus erhöht. „Der Papst ist einer der autoritärsten, die wir seit langem hatten.“ (Robert Spaeman in Herder Korrespondenz). Nun sind die weitreichenden Änderungen, die er durchgeführt hat oder angekündigt hat, ebenso wie Korruptionsbekämpfung, nur mit einer starken zentralen Hand durchführbar, aber de facto hat die Einzelperson des Papstes im Vatikan heute viel mehr effektive und juristische Macht, als irgendeiner der Vorgänger hatte. Ein schönes Beispiel ist die zunehmende Zahl der Frauen in vatikanischen Leitungsämtern, die eigentlich bei jeweils obersten Entscheidungen geweihten Personen vorbehalten waren. Um das zu umgehen, hat der Papst kurzerhand entschieden, dass keine der Vatikaninstitutionen selbständig agieren kann, sondern alles von ihm abgezeichnet werden muss. Dadurch ist es nun kein Problem, Frauen für die meisten Leistungsposten zu ernennen, der Preis ist aber eine innervatikanische Konzentration, wie sie die beiden Vorgänger so nicht kannten.

Downloads und Links

  • Foto 1: Thomas Schirrmacher und Papst Franziskus 2013 © Thomas Schirrmacher
  • Foto 2: Thomas Schirrmacher im Gespräch mit Papst Franziskus 2015 © Thomas Schirrmacher
  • Foto 3: Selfie mit dem Papst anlässlich der Übergabe der Jahrbücher 2017 © BQ/Martin Warnecke
  • Foto 4: Papst Franziskus an seinem Geburtstag im Jahr 2023 in seinem Haus © Thomas Schirrmacher
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