Vorwort von Thomas Paul Schirrmacher zur neuen Studie „Sexuelle Gewalt im freikirchlichen Umfeld“

BQ 810 – 33/2024

(Bonn, 09.10.2024) Im Folgenden geben wir das Vorwort von Thomas Paul Schirrmacher zur Auswertung der Online-Umfrage #Dunkhellziffer „Sexuelle Gewalt im freikirchlichen Umfeld“ von Daniel und Debora Höly wieder:

Vorwort Prof. Dr. Dr. Thomas Schirrmacher

Ich bin Daniel und Debora Höly sehr dankbar, dass sie für Deutschland die Initiative ergriffen und die Möglichkeit für Christen aus Freikirchen und insbesondere für Betroffene geschaffen haben, an ihrer Online-Umfrage teilzunehmen. Ich danke allen Betroffenen, die in ihren Antworten ihr Herz offenbart haben und dazu beitragen, dass in Zukunft ein besserer Umgang mit sexueller Gewalt im freikirchlichen Umfeld möglich wird. Ein Umgang, der einerseitsbiblisch-theologischen und seelsorgerlich-geistlichen Werten besser Rechnung trägt, und andererseits dem gerecht wird, was in den letzten Jahrzehnten fachlich an Wissen gewonnen und in einen besseren gesetzlichen Schutz investiert wurde.

Ich war etwas mehr als ein Jahr Pastor, als die Kinder eines Ältesten meiner Gemeinde mir berichteten, sie würden regelmäßig missbraucht. Unerfahren wie ich war, versuchte ich, die Sache kirchenintern, also ohne Polizei, anzugehen. Niemand glaubte mir und den Kindern. Am Ende wurde ich versetzt und erst sehr viel später kam es zu einer Verurteilung durch ein Gericht. Die Kinder sind mir allerdings bis heute dankbar, dass ich eingegriffen habe und ihren Glauben an Jesus Christus ‚gerettet‘ habe.

Viele Weltreisen und Gespräche und Erfahrungen mit Gemeinden auf allen Kontinenten weiter dränge ich heute darauf, dass Gemeinden wie selbstverständlich Themen rund um jede Form von häuslicher oder innergemeindlicher Gewalt und – wie in diesem Fall Gegenstand der Umfrage – sexuellem Missbrauch thematisieren, in Lehre und Seelsorge ansprechen und für Schulungen von Mitarbeitern und Seelsorgern verpflichtend machen. Nie darf der Eindruck erweckt werden, dass die Zugehörigkeit zu unseren Gemeinden solche Gräuel automatisch verhindert, oder dass ihr Aufdecken und Angehen den guten Ruf der Gemeinde schade.

Denn beides widerspricht unseren biblischen Überzeugungen. Für Erweckungs- und Heiligungsbewegungen, aus denen die meisten unserer Freikirchen hervorgegangen sind, bedeutet Heiligung ja nicht, den Anschein zu erwecken, man wäre heiliger, und dafür alles zu unterdrücken, was diesen Anschein in Frage stellen könnte, sondern umgekehrt: angesichts des Wissens, wie leicht wir alle unheilig denken und handeln können, selbstkritisch und wachsam zu sein und Hilfe zum heiligen Leben anzubieten. Heiligung bedeutet mit Unheiligem zu rechnen und gegen Unheiliges einzuschreiten und bei allem die verändernde Kraft des Heiligen Geistes zu erbitten.

Das Erschreckendste an den Untersuchungen fassen für mich die rückblickenden Wünsche der Betroffenen zusammen. Zwei Beispiele müssen hier genügen.

„Das mir jemand geglaubt hätte!“

Eltern glaubten Kindern nicht oder Frauen wurden verdächtigt, ihre Männer zu Unrecht zu verunglimpfen. Der Glaube, dass so etwas angeblich in frommen Kreisen nicht vorkommt, wurde aufrechterhalten, indem man die Opfer zu den Schuldigen machte.

(2) [Einen] „Offenen Umgang mit dem Thema, um zu merken, dass man nicht alleine damit ist und die Zusage, dass man nicht schuld ist, wenn einem so etwas widerfährt.“

Sorgen wir dafür, dass dieser Wunsch Wirklichkeit wird!

Prof. Dr. phil. Dr. theol. Dr. h. c. Thomas Paul Schirrmacher
Generalsekretär der Weltweiten Evangelischen Allianz 2021–2024
Präsident des Internationalen Rates der International Society for Human Rights
Professor für Religionssoziologie, Staatl. Universität des Westens (Timisoara, Rumänien)

idea Pressemeldung: „Umfrage beleuchtet sexuellen Missbrauch im freikirchlichen Umfeld“

Einer Umfrage unter Mitgliedern freikirchlicher Gemeinden in Deutschland zufolge hat jeder Sechste sexuelle Gewalt erlebt. An der Online-Befragung „Sexualisierte Gewalt im freikirchlichen Umfeld“ der Journalisten Daniel und Debora Höly (Rheinbach) nahmen 5.294 Menschen aus dem deutschen freikirchlichen Umfeld teil. Sie wird am 8. Oktober veröffentlicht und liegt der Evangelischen Nachrichtenagentur IDEA exklusiv vorab vor.

Täter stammen häufig aus der Familie

Die Umfrage ist dem Ehepaar zufolge „nicht repräsentativ im wissenschaftlichen Sinne“. Es handele sich um eine journalistische Erhebung und nicht um eine wissenschaftliche Untersuchung. Ziel sei es, das Ausmaß von Missbrauchserfahrungen im freikirchlichen Umfeld zu verdeutlichen.

873 Umfrageteilnehmer (16 Prozent) gaben an, Opfer von sexuellem Missbrauch geworden zu sein. 52 Prozent der Missbrauchsbetroffenen schilderten, dass die Täter aus dem nahen familiären Umfeld (Vater, Mutter, Bruder, Ehepartner, Verwandter) stammten. Neun Prozent der Übergriffe wurden den Befragten zufolge von Personen aus dem freikirchlichen Umfeld verübt.

Bei Frauen ist der Anteil der Taten innerhalb der Gemeinde höher als bei Männern: Bei elf Prozent der betroffenen Frauen stammte auch der Täter aus einem freikirchlichen Umfeld, während dies nur bei zwei Prozent der Männer zutraf. Laut den Autoren der Befragung zeigten die Ergebnisse, dass sexuelle Gewalt in Freikirchen keine Einzelfälle seien.

Fünf Prozent erstatteten Anzeige

Die Umfrage zeigt zudem, dass viele Betroffene lange brauchen, um über ihre Erlebnisse zu sprechen. 46 Prozent der Opfer wandten sich erst nach sechs Jahren oder später an eine Vertrauensperson. 13 Prozent haben bis heute mit niemandem über den Missbrauch gesprochen.

Zudem gaben 75 Prozent der Befragten an, dass es in ihren Gemeinden keine spezifische Anlaufstelle für Opfer sexuellen Missbrauchs gibt oder sie nichts davon wissen. 43 Prozent der Teilnehmer berichten, dass das Thema sexueller Missbrauch in ihrer Gemeinde nicht angesprochen werde. Fünf Prozent der Opfer erstatteten Anzeige oder leiteten rechtliche Schritte gegen die Täter ein.

Die Hälfte der Betroffenen (50 Prozent) waren zum Zeitpunkt des ersten sexuellen Missbrauchs zwischen null und zehn Jahre alt. 38 Prozent waren zwischen elf und 17 Jahre alt, 13 Prozent 18 Jahre oder älter.

Forderung: Freikirchen sollten handeln

Die Autoren der Befragung fordern die freikirchlichen Gemeinden auf, sich verstärkt mit dem Thema auseinanderzusetzen, weitere Anlaufstellen zu schaffen und das Thema sexuelle Gewalt offen zu behandeln. „Unsere Hoffnung ist, dass die Umfrage eine Stimme für die Betroffenen und gegen das Schweigen sein darf“, so Daniel Höly.

Das Ehepaar Höly führte die Umfrage zwischen dem 23. November 2022 und dem 28. Februar 2023 durch. Die Ergebnisse der Umfrage können unter dunkhellziffer.de heruntergeladen werden.

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