BQ 778 – 1/2024
Eine strategische Definition der Evangelisation für das 21. Jahrhundert

11 bedenkenswerte Thesen von Thomas Schirrmacher und Johannes Reimer

(Bonn, 02.01.2024) Der Generalsekretär der Weltweiten Evangelischen Allianz (WEA), Bischof Prof. Dr. Thomas Schirrmacher, und der Dozent für Missiologie und Leiter des WEA-Netzwerks für Frieden und Versöhnung, Prof. Dr. Johannes Reimer, unterbreiten die folgenden Vorschläge nicht als offizielle Erklärung oder Grundsatzprogramm der WEA, sondern basierend auf ihrer langjährigen Erfahrung als Professoren für Missiologie, die um die Welt gereist sind und vielen Leitern rund um den Globus zugehört haben.

Die 11 Thesen von Schirrmacher und Reimer

Wir wissen, dass der Heilige Geist letztlich für die Ausbreitung des Evangeliums von der Erlösung durch Jesus Christus in der ganzen Welt verantwortlich ist. Er ist der Herr über die Mission des neuen Bundes (2 Kor 3,17). Doch wir sind Botschafter Christi, denen das Wort der Versöhnung anvertraut ist – was uns dazu verpflichtet, anderen das Evangelium mitzuteilen (2 Kor 5,18–20).

Erfolgreiche Kommunikatoren müssen die Sprache, die jeweilige Kultur und den Zeitgeist verstehen, um den Menschen das Evangelium in angemessener Weise zu vermitteln. Wer sich um die Zukunft des Evangeliums in der Welt sorgt, sollte sich mit den Themen befassen, die für die Welt von Bedeutung sind.

Unsere Welt ist ständig im Wandel. Das gilt auch für unsere Sprachen, Kulturen und Kommunikationsformen. Elektronische Kommunikationsmittel haben die Art und Weise, wie die nächste Generation denkt und handelt, verändert – selbst in physischen Aspekten wie der Art und Weise, wie und wann wir uns bewegen oder welche Muskeln wir trainieren. Wir müssen uns dem Wandel stellen, um das sich nie ändernde Evangelium erfolgreich zu vermitteln.

In diesem Sinne schlagen wir 11 Themen vor, von denen wir glauben, dass sie von entscheidender Bedeutung sind, wenn wir versuchen, das Evangelium in den Kulturen rund um den Globus zu verkörpern.

1. Globalisierung und Migration und die damit verbundene Entstehung von Diasporagemeinschaften: Heute leben mehr Armenier außerhalb als innerhalb Armeniens. Millionen von Chinesen, Koreanern und Filipinos sind über die ganze Welt verstreut. In vielen europäischen Städten gibt es afrikanische Gemeinschaften. Wir könnten noch weitere ähnliche Beispiele anführen. Angesichts dieser Migrationsströme muss auch die Verkündigung des Evangeliums eine migratorische Form annehmen.

Der Prozentsatz der Gläubigen, die in der Diaspora leben, nimmt zu, oft eher gegen ihren Willen als aus freien Stücken. Die Dias­pora-Kirchen haben dringende Bedürfnisse im eigenen Land und kümmern sich um ihre Landsleute, aber sie spielen in vielen Ländern auch eine wichtige Rolle in der Evangelisation. In einigen arabischen Ländern stellen die Auswanderer die Mehrheit der Gläubigen im Lande. Die Herausforderung für die WEA mit ihrer Struktur von Mitgliedsallianzen, die sich entlang nationaler Grenzen gebildet haben, besteht darin, die Diaspora als gleichberechtigte Partner in die nationalen evangelischen Allianzen zu integrieren und globale, selbstverwaltete Netzwerke entlang sprachlicher oder ethnischer Grenzen zu entwickeln, wie wir es mit der neuen Weltweiten Chinesischen Christlichen Allianz (WCCA) getan haben.

2. Urbanisierung und ihre Folgen: Die Städte der Welt wachsen, weil die Menschen auf der Suche nach Arbeit, Beschäftigung und einem besseren Leben dorthin strömen. Doch viele dieser Menschen landen in Slums und bitterer Armut mit all den Folgen des sozialen Abstiegs. Ihnen das Evangelium zu verkünden bedeutet, nach Möglichkeiten zu suchen, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Das Evangelium muss in diesen Kontexten eine praktische Form annehmen. Evangelikale Kirchen – von Megakirchen bis hin zu kleinen Gemeinden und Hauskirchen – sind in Großstädten aktiv. Die WEA arbeitet eng mit UN-Habitat zusammen, das sich um die Zukunft der Großstädte kümmert und auf unsere Mitarbeit angewiesen ist. Wir haben spezielle globale Gebetsnetzwerke und eine Zusammenarbeit von Stadt zu Stadt.

3. Die Ausbreitung der Weltreligionen und ihre Auswirkungen auf Mission und Dialog: In einer globalisierten Welt sind die großen Religionen allgegenwärtig. Darüber hinaus bringt die Migration Millionen von Nichtchristen in Länder, die seit Jahrhunderten vom Christentum beherrscht werden. Dies erfordert sowohl Kenntnisse über andere Religionen als auch theologische Argumente für das Evangelium. Die Verkündigung im interreligiösen Raum setzt voraus, dass das Evangelium vom westlichen kulturellen Ballast befreit wird und eine Form annimmt, die für die Menschen in diesem religiösen und kulturellen Raum verständlich ist. Vielerorts ist ein gutes Verhältnis zu anderen Religionen, insbesondere dort, wo das Land eine Staatsreligion hat, notwendig, um den Schutz unserer Kirchen zu gewährleisten. Viele religiöse Führer wollen mit uns zusammenarbeiten, um die wachsende Bedrohung durch säkulare Weltanschauungen (oder besser säkulare Religionen) zu bekämpfen, die die Gesellschaften übernehmen – und das nicht nur in westlichen Staaten. Die WEA ist sehr stark in den Dialog mit den Spitzenführern aller Religionen eingebunden, um Vertrauen aufzubauen. Unser Ansatz des Dialogs ist niemals ein Ersatz für die Wahrheit, aber wir müssen in die Ausbildung von Gläubigen in einer Art des Dialogs investieren, die Freundschaften und eine differenzierte Sichtweise der anderen hervorbringt, im Einklang mit der Vermittlung des Evangeliums der Liebe.

4. Säkularismus und Agnostizismus verdrängen in wirtschaftlich entwickelten Ländern jede Religion in den privaten Bereich. Wenn darüber hinaus ein religionsfeindlicher Säkularismus in der nationalen Politik Fuß fasst, werden Religionen, einschließlich der evangelikaler Kirchen, an den Rand gedrängt oder sogar kriminalisiert, etwa durch radikale Befürworter der gleichgeschlechtlichen Ehe oder des Transgenderismus. In solchen Kontexten wird die Verkündigung des Evangeliums schnell mit dem historischen institutionellen Erscheinungsbild der Kirche in Verbindung gebracht. Wir müssen das Evangelium bewusst von den öffentlichen Bildern der historischen Kirche abkoppeln. Wir müssen auch evangelikale Führungskräfte in großem Umfang darin schulen, wie sie mit solchen Situationen umgehen können.

5. Der Islam in seiner gemäßigten Form (wie in Indonesien), in seiner Form als Staatsreligion in vielen Ländern, wie auch in seiner gewalttätigen extremistischen Form bietet dem Christentum ungeahnte Herausforderungen und Wachstumschancen in vielen islamischen Ländern. Der Erfolg des Evangeliums in solchen Ländern ist jedoch durch die große Abhängigkeit des Christentums von westlichen Vorgaben stark gefährdet, was schnell zu einer Verwechslung zwischen christlichen und westlichen Werten führen kann.

Wir müssen Gläubige mit muslimischem Hintergrund, insbesondere ihre langjährigen Leiter, ermutigen, mutig ihre eigenen Strategien zu entwickeln, um ihre Familien, Kulturen und Nationen zu erreichen, unabhängig von Lehrbuchideen oder der Zustimmung von außen. Sie sollten auch von den orientalischen Kirchen lernen, die jahrhundertelang unter muslimischer Herrschaft gelebt haben und die bis vor kurzem aufgrund unglücklicher Entwicklungen in der Kirchengeschichte vor mehr als 1.500 Jahren fälschlicherweise als außerhalb der wahren Kirche stehend betrachtet wurden. Darüber hinaus stellt der westliche evangelikale Denominationalismus hier eine Bedrohung dar, weil die Gläubigen über verschiedene Strukturen verstreut sind, die sich nicht darauf konzen­trieren, die muslimische Welt zu erreichen, und die es Leitern schwer machen können, sich an einen Tisch zu setzen.

6. Politische multipolare Konfrontationen auf globaler und nationaler Ebene: Verschiedene politische Systeme stehen sich gegenüber und kämpfen um die Vorherrschaft in der Welt. Der Konflikt zwischen China und den USA sowie der Krieg Russlands gegen die Ukraine, bei dem alle Beteiligten Verbündete auf der ganzen Welt suchen, sind hier die besten Beispiele. Das Christentum neigt dazu, sich an westliche liberal-demokratische Ideen zu klammern und läuft Gefahr, mit diesen Systemen verwechselt zu werden. „Demokratie“ kann zu einer Religion werden, während man trotz der Attraktivität demokratischer Ideale in Wirklichkeit ein bestimmtes System der Demokratie braucht und alle von ihnen ernsthafte Grenzen haben, wie die aktuellen Entwicklungen in den USA, Brasilien oder Frankreich zeigen. Das Evangelium darf jedoch keinem politischen System unterworfen werden, sondern muss das Reich Gottes und seine Werte fördern. Wir müssen daher die starke Abhängigkeit der Verkündigung des Evangeliums von politischen Ansichten, die ihren Ursprung im Westen haben, neu überdenken.

Dazu gehört auch die dringende Notwendigkeit zu erörtern, wie Evangelikale und ihre Kirchen ihr öffentliches Engagement in Ländern ausüben sollten, in denen sie einen großen Teil der Wählerschaft stellen. Die Fälle der USA und Brasiliens zeigen, dass wachsende politische Macht dazu führen kann, dass die Kirche in einer politischen Partei aufgeht oder zum Anhängsel einer bestimmten politischen Partei wird, was dann in der Öffentlichkeit das überschattet, wofür wir wirklich stehen. Das ewige Evangelium vermischt sich so mit ständig wechselnder, weltlicher Parteipolitik.

7. Die Bewahrung der Schöpfung als Teil des Menschseins und des Vertrauens in den Schöpfer: Männer und Frauen sind nach Gottes Ebenbild geschaffen (Gen 1,26) und von Gott als Verwalter seiner Schöpfung eingesetzt („und bewahre sie“, Gen 2,15). Wo immer die Zukunft der Schöpfung auf dem Spiel steht und Lösungen diskutiert werden, müssen wir mitten im Chaos stehen und Zeugnis ablegen für den Schöpfer und für unsere Überzeugung, dass jede Lösung zur Rettung der Schöpfung die Versöhnung mit unserem Schöpfer einschließen sollte. Wir sollten auch zeigen, dass wir selbst gute Verwalter der Schöpfung sind, und die Kirchen ermutigen, ein positives Beispiel für die Ehrung des Schöpfers zu geben, indem wir die Schöpfung vor Habgier und anderen bösen Motiven in den Herzen der Menschen schützen, die sie möglicherweise zerstören.

8. ‚Erste Nationen‘ und mündliche Kulturen: Die älteste nordamerikanische Missionsgesellschaft von 1787, die Society for Propagating the Gospel Among the Indians and Others, erklärte in ihrer Satzung als Ziel, die Indianer „englisch in der Sprache und christlich in der Religion“ zu machen. Obwohl das Evangelium unter vielen der Ersten Nationen dieser Welt erfolgreich war, haben viele Kirchen weltweit in Verbindung mit einer weitreichenden politischen Aufarbeitung der Vergangenheit begonnen, ihre Fehler – oder sogar Verbrechen – zu untersuchen und die Rolle der Ersten Nationen in der Kirche sowie ihr Verhältnis zu den Anhängern indigener Religionen innerhalb der Ersten Nationen neu zu überdenken. Wir müssen dafür sorgen, dass Gläubige aus diesen Nationen gehört werden und mit am Tisch sitzen, und wir müssen stärker zwischen dem Missionsbefehl und den Bemühungen, andere Nationen nach dem Vorbild der industrialisierten Welt zu zivilisieren, unterscheiden. Darüber hinaus müssen wir die Rolle des Landes (Grund und Boden) in unserem Glauben stärker herausarbeiten, da die Ersten Nationen dies oft als eine wichtige Botschaft des Alten Testaments aufgreifen und da alle Fragen rund um das Land integraler Bestandteil jedes Engagements für die Schöpfung sind.

Neben den traditionellen ethnischen mündlichen Kulturen, die ihre eigene Art der Verkündigung des Evangeliums und ihre eigenen Ortskirchen brauchen, haben wir es mit schnell wachsenden de facto mündlichen Kulturen auf der ganzen Welt zu tun. Dies ist zum Teil auf die Armut und den Zuzug armer Menschen in die Großstädte zurückzuführen, aber auch darauf, dass eine große Zahl von Menschen selbst in gebildeten Ländern eher auf Fernsehen, visuelle Kommunikation und elektronische Übermittlung als auf schriftliche Texte angewiesen ist. Die Favelas in Brasilien sind nur ein Beispiel dafür, und sie zeigen auch das Potenzial für ein schnelles Wachstum der Kirche in mündlichen Gemeinschaften. Wir müssen auch darüber diskutieren, wie all das Fachwissen, das im Zusammenhang mit mündlichen Kulturen gesammelt wurde, in neuen Situationen fruchtbar eingesetzt werden kann.

9. KI und das Evangelium: Die rasante Entwicklung der KI-Technologien erfordert sorgfältige Überlegungen darüber, wie man das Evangelium in der digitalen Welt verkündet und wie man auf Fragen von der Altenpflege (wenn Roboter die „Pflege“ älterer Menschen ausweiten) bis hin zur theologischen Ausbildung reagiert, da die KI versuchen könnte, theologische Fragen zu beantworten, die von Menschen gestellt werden, die auf der Suche nach Gott sind. Wir müssen bibeltreue Experten für KI mit der Kirche zusammenbringen, um uns auf die Zukunft vorzubereiten.

10. Historische Kirchen und Reformation oder Erweckung: In diesem Zusammenhang sehen wir mehrere wichtige Entwicklungen. (1) Viele historische Konfessionen spalten sich entweder sichtbar oder intern in konservative und liberale Lager in moralischen Fragen. (2) Historische Kirchen im globalen Süden distanzieren sich von ihren liberaleren Mutterkirchen im Westen. (3) Das Vordringen der charismatischen Bewegung hat dazu geführt, dass praktisch alle Kirchen über große charismatische Flügel verfügen, die oft eng mit charismatischen oder pfingstlerischen Kirchen in der evangelikalen Welt verbunden sind. Charismatische Bewegungen in nicht-protestantischen Kirchen drängen auf eine gemeinsame Evangelisierung; die bisherigen Reaktionen zeigen eine große Bandbreite unterschiedlicher Positionen. (4) Sogenannte unabhängige Kirchen, wie die Afrikanischen Instituierten Kirchen, die keine offizielle Verbindung zur westlichen Kirchengeschichte haben, nehmen an Zahl und Mitgliedschaft rasch zu.

Evangelikale müssen die lokalen, regionalen und globalen Entwicklungen untersuchen und bewerten, um festzustellen, was all dies für unser traditionelles Portfolio an Denominationen und einige überkommene theologische Urteile bedeutet und wer zu unserer globalen Familie der Evangelischen Allianz gehört.

11. Bibelkenntnis, Jünger, ungeschulte Pastoren: Wir freuen uns über das unglaubliche Wachstum des Leibes Christi an vielen Orten rund um den Globus. Gleichzeitig wissen wir aber auch, dass die Zahl der geistlichen Leiter, die benötigt werden, um die neuen Gemeinden zu fördern, sehr groß ist. Wir brauchen neue Initiativen, die globale und lokale Teilnehmer zusammenbringen, um die Bibelkompetenz zu fördern, neue oder neu erweckte Gläubige durch Jüngerschaft reifen zu lassen, eine Million ungeschulter Pastoren auszubilden und das breite Spektrum an nicht-traditionellen und traditionellen Ausbildungsmöglichkeiten zu erweitern. Wir müssen vielfältige Mittel einsetzen, um in aufstrebende jüngere Leiter zu investieren und sie in Entscheidungsprozes­sen zu stärken. Wir müssen dafür sorgen, dass die Gemeinde Gottes mit der Leitung ausgestattet wird, die der Heilige Geist gemäß Eph 4,11 für seine Gemeinde vorgesehen hat.

Viele andere Themen könnten hinzugefügt werden, und die WEA ist an den meisten dieser Themen auf unterschiedliche Weise beteiligt. Zum Beispiel:

  • gescheiterte Staaten und die Herausforderung der Kirche, die in diesen Staaten lebt
  • Rassismus auf allen Ebenen
  • Menschenhandel einschließlich Zwangsprostitution
  • sexueller Missbrauch im Allgemeinen und sexueller Missbrauch von Minderjährigen, besonders im kirchlichen Kontext
  • Unterdrückung von Frauen
  • unheilige Aneignung und Anhäufung von Reichtum
  • religiöser Nationalismus und seine Rolle in Wahlkämpfen
  • Völkermorde, einschließlich der Überschneidung von Christenverfolgung und Völkermordzielen
  • das ungeborene Leben und die Prolife-Bewegung
  • die Rolle der Kirche in alternden Kulturen mit einer wachsenden Zahl älterer Menschen, wie z. B. in Europa, Japan oder China
  • die Rolle der Kirche in Kulturen, in denen junge Menschen die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, wie z. B. in Afrika
  • die Schwierigkeit für unsere Kirchen, sich in vielen Ländern rechtlich registrieren zu lassen, manchmal auf Betreiben anderer religiöser Gruppen

Diese Arbeit ist noch im Gange. Alle Interaktionen und Beiträge sind willkommen. Dieser Entwurf ist auf der Commissioned App  für eine direkte Interaktion verfügbar. Ansonsten senden Sie bitte Antworten an 11PROPinteraction@worldea.org.

Downloads und Links

  • Foto 1: Prof. Dr. Thomas Schirrmacher © WEA/Schirrmacher
  • Foto 2: Prof. Dr. Johannes Reimer © WEA
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