Stellungnahme im Deutschen Bundestag zu Judenhass (Antisemitismus) von Thomas Paul Schirrmacher

BQ 791 – 14/2024

(Bonn, 29.05.2024) Der Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages hat am 24. April 20224 eine Expertenanhörung zum Dritten Bundesbericht zur Religionsfreiheit durchgeführt. Eine Frage an den Präsidenten des Internationalen Instituts für Religionsfreiheit (IIRF), Erzbischof Prof. Dr. Thomas Paul Schirrmacher, bezog sich auf Antisemitismus. Im Folgenden wird ein Auszug aus seiner Antwort wiedergegeben.

Antisemitismus

Worin sehen Sie die Hauptursachen für den weltweit grassierenden Antisemitismus und welche Maßnahmen sollten die Bundesregierung und andere demokratische Staaten unternehmen, um dem entschieden und nachhaltig entgegenzuwirken? (BÜNDNIS 90/ Die Grünen)

Vorweg sei angemerkt, dass „Judenhass“, ein Ausdruck, den die Nationale Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben (NASAS) der Bundesregierung von 2022 parallel zu „Antisemitismus“ verwendet, eigentlich ein präziserer Ausdruck für das zu disku­tierende Problem ist.

Kürzlich hielt ich eine Gastvorlesung zum 75. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte an der Princeton University. Anschließend suchte ich das Center for Jewish Life der Universität auf, um mich vor Ort über Übergriffe auf jüdische Studierende zu informieren, die 9,6 % der Studierenden der Universität ausmachen. Typisch war für mich, dass zahlreiche der betroffenen Studenten selbst die israelische Regierung scharf kritisieren. Sie wurden aber nicht wegen ihrer politischen Überzeugungen angegriffen – was schlimm genug wäre –, sondern einfach als Juden, von Tätern, deren Überzeugungen sie weitgehend teilten.

In meinem Buch ‚Rassismus‘ vertrete ich die Auffassung, dass es drei Arten von Rassismus gibt, die sich seit Jahrhunderten von Generation zu Generation vererben und weltweit in Erscheinung treten.

  1. der „Schwarzen“ oder „Farbigen“ (d. h. von Menschen, die eine dunklere Hautfarbe als man selbst haben), sie sind angeblich dumm und unzivilisiert,
  2. der Juden – sie sind angeblich verschlagen, raffgierig und herrschsüchtig,
  3. der „Zigeuner“, also vorwiegend das Volk der Roma – sie sind angeblich asozial und diebisch.

Was letztlich der Grund dafür ist, das aus den vielfältigen Arten des Rassismus und des Hasses auf andere und aus den tausenden von Ethnien weltweit gerade die Juden und Roma global ins Visier gerieten, wird weltweit diskutiert und dürfte kaum vernünftig zu beantworten sein. Warum sich derzeit Millionen von Menschen in Indonesien öffentlich gegen Juden und Israel wenden, denen die Verfolgung der Uighuren durch China, das Verheizen muslimischer Soldaten durch die russische Regierung und die Lage von Flüchtlingen weltweit egal ist, ist schwer zu verstehen.

Gott sei’s geklagt, spielt beim Judentum aber eine tragische Rolle, dass die beiden größten Weltreligionen als Töchter des Judentums zusammen mit dem modernen Säkularismus gewissermaßen als Enkelkind eine gemeinsame tragische Geschichte des Antisemitismus haben, sie sich gegenseitig aufschaukelten. Es ist hier nicht der Ort, die antisemitische Geschichte in Islam und Christentum nachzuzeichnen, die zugleich immer schon mit Verschwörungstheorien einherging. Es ist auch keine Frage, dass der europäische Antisemitismus den islamischen Antisemitismus im Kolonialzeitalter befeuerte, sah man im Islam doch lange die Juden als kleine, unbedeutende, schutzbedürftige Gruppe an, die sowieso unterlegen war, während nun dank Verschwörungstheorien die Juden zur Weltgefahr wurden, dann noch befeuert von der Suche nach einer Erklärung dafür, dass die arabischen Länder den jüdischen Staat militärisch nicht besiegen konnten.

Nur war dieser aus Europa kommende Antisemitismus bereits ein säkularer Antisemitismus, denn das sich säkularisierende Europa brachte nicht nur in der Form des Nationalsozialismus Antisemitismusformen hervor, die die Juden nicht als Anhänger einer Religion, sondern als ethnische Gruppe („Rasse“) sahen. Vor allem die „Protokolle der Weisen von Zion“, 1903 auf Russisch verfasst, aber erst ab 1919 im großen Stil auf Deutsch und Englisch verbreitet, haben mit ihrer Weltverschwörungstheorie der christlichen Welt und spätestens im 2. Weltkrieg der arabischen und der islamischen Welt ein „Upgrade“ des Hasses geliefert. Daraus entstand ein unheilvoller Mix.

Ein typisches Beispiel ist der gegen Israel gerichtete Antizionismus als Spielart des gegen Juden gerichteten Antisemitismus. Der Antizionismus will, dass die Juden auch dann keinen jüdischen Staat in Palästina behalten, wenn eine Lösung für die Palästi­nenser gefunden wird. Doch was wird dabei eigentlich gehasst? Geht es um das Juden­tum als Religion im Gegensatz etwa zum Islam? Um das liberale politische System Israels? Geht es um die Juden als Rasse, was naheliegt, sonst wäre die arabische Ausgabe von Hitlers ‚Mein Kampf‘ kein Renner, die übrigens ‚Antisemitismus‘ mit ‚Anti­judaismus‘ wiedergibt, weil die Nazis natürlich nicht die Araber meinten, die ebenfalls ‚Semiten‘ sind und das Judentum nicht als Religion verstanden, sondern als Ab­stammungsgemeinschaft, weshalb auch christlich getaufte Juden unterschiedslos ermordet wurden.

Dieselbe Verquickung findet sich natürlich umgekehrt in der Einstellung vieler extremistischer Israelis gegenüber den Palästinensern, wo auch unklar ist, ob Palästinenser als „Rasse“ gehasst werden oder aufgrund ihrer Religion (als Muslime und zu kleinen Teilen als Christen).

Deutschland verfügt über zwei hervorragende Aktionskataloge bzw. Strategiepapiere, die im Bundesinnenministerium angesiedelt sind und die nur stärker umgesetzt werden müssten, die ich zwar kommentieren, aber kaum sinnvoll ergänzen könnte.

  1. Da ist zum einen der Bericht ‚Antisemitismus in Deutschland: Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus – Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze‘ mit einer hervorragenden Bestandsaufnahme und zentralen und umsetzbaren Handlungsempfehlungen.
  2. Noch viel konkreter ist die 2022 von der Bundesregierung beschlossene ‚Nationale Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben‘, mit der eigentlich alles Nötige gesagt ist, es muss nur umgesetzt werden.

Diese Strategie entstand in Zusammenarbeit mit dem 2018 eingesetzten Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, der aus meiner Erfahrung gerade auch bei gemeinsamen Auftritten im In- und Ausland hervorragende Arbeit leistet. Es wäre wünschenswert, sein Amt finanziell besser auszustatten – auch im Vergleich zu neueren Beauftragten der Bundesregierung, zumal sich seit dem Terroranschlag vom 7.10.2023 zeigt, dass Deutschland das Thema Antisemitismus nicht nur aufgrund einer historischen Verantwortung heraus angehen muss, sondern tagesaktuell aufgrund einer Vielzahl von bösartigen Motiven, die zum Teil nichts mit unserer eigenen Geschichte zu tun haben. Antisemitismus – ebenso wie andere Formen des Rassismus – ist immer falsch, ganz gleich welche historische Vorgeschichte die Motive haben und wie die jeweilige religiöse oder sonstige Sozialisation der Täter verlaufen ist.

Daneben ist zu vermerken, dass Deutschland – diesmal vertreten durch das Bundesaußenministerium – 2020/21 die Präsidentschaft der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) innehatte, zu der Deutschland seit 1998 gehört und sich 2017 deren – rechtlich unverbindliche – Arbeitsdefinition des Antisemitismus zu eigen gemacht hat.

Und schließlich unterstützt Deutschland die ‚Erklärung der EU-Kommission zu antisemitischen Vorfällen in Europa‘ von 2023 und hat dem ausgezeichneten Maßnahmenkatalog ‚EU-Strategie gegen Antisemitismus und zur Förderung jüdischen Lebens‘ der EU-Kommission von 2021, einer Selbstverpflichtung aller Mitgliedsstaaten, zugestimmt.9 Wesentlich erarbeitet wurden diese Texte und Strategien vom Büro des Coordinator on combating antisemitism and fostering Jewish life der EU-Kommission, seit 2015 unter der Leitung der Deutschen Katharina von Schnurbein.

Ich könnte mit dem ‚Lagebild Antisemitismus‘ des Bundesamtes für Verfassungsschutz von 2020 und vielen weiteren regierungsamtlichen Stellungnahmen weiter machen, das Problem sind also weniger die vorgeschlagenen Maßnahmen und Strategien als die fehlende Umsetzung oder Finanzierung.

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