Lehren aus der Kontroverse um die olympische Zeremonie

BQ 812 – 35/2024

Eine Analyse von Thomas Paul Schirrmacher

(Bonn, 07.11.2024) Die Olympischen Spiele 2024 in Paris haben bei ihrer Eröffnungsfeier mit einer Szene, die Beobachter als Verhöhnung des Christentums interpretierten, für erhebliche Kontroversen gesorgt. Die Weltweite Evangelische Allianz (WEA) reagierte prompt mit einer maßvollen, respektvollen Erklärung, in der sie feststellte, dass „Respektlosigkeit, wenn auch unbeabsichtigt, zu spüren war“. Jetzt, mit drei Monaten Abstand, bietet eine der prominentesten Stimmen des weltweiten Christentums zu Menschenrechten, Thomas Paul Schirrmacher, diese Analyse an, um uns zu helfen, in Zukunft auf ähnliche Situationen überzeugend zu reagieren und Argumente zu entkräften, dass Kunstfreiheit solche Darbietungen rechtfertigt.

Die Analyse

Bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris wurde ein Drama aufgeführt, bei dem Dragqueens Leonardo da Vincis Gemälde des letzten Abendmahls nachahmten. Die Darstellung führte zu breiter Kritik von Seiten christlicher und muslimischer Gemeinschaften sowie zu heftigen Debatten in den Medien. Nachdem die emotionale Debatte abgeklungen war, habe ich mir die Verteidigungsargumente des Leiters der Organisation, die die Eröffnungs- und Abschlusszeremonie geplant hatte, Tony Estanguet, und des Choreographen Thomas Jolly genauer angesehen.*

Mit diesen Bemerkungen fordere ich nicht, dass Christen einen besonderen Schutz verdienen oder dass ich mich nur um die Rechte und Empfindlichkeiten von Christen kümmere. Ich würde ähnliche Worte schreiben, wenn die Szene ein Bild oder ein Ereignis verspottet hätte, das den Muslimen oder einer anderen religiösen Gruppe lieb und teuer ist. Ich verteidige nachdrücklich die Religions- und Weltanschauungsfreiheit, was auch das Recht nicht-religiöser Menschen einschließt, meinen christlichen Glauben zu kritisieren. Aber wir sprechen hier nicht über die Meinungs- oder Redefreiheit von Privatper­sonen, sondern über ein globales Ereignis, das von einer Milliarde Menschen auf der ganzen Welt gesehen wurde und das Harmonie fördern sollte.

Der Choreograf Thomas Jolly sagte, die Zeremonie solle „inklusiv“ sein. Aber seine Version von Inklusion schloss Christen nicht ein – also 2,3 Milliarden Menschen und durch ein Drittel der Sportler und Zuschauer. Keine andere Gruppe wurde während der Eröffnungszeremonie verspottet; warum wurden die Christen herausgegriffen? Und da Jolly hinzufügte, dass er vermitteln wollte, dass man in Frankreich „das Recht hat, nicht zu beten“, eine Selbstverständlichkeit für alle Verfechter der Religions- oder Weltanschauungsfreiheit, ist es offensichtlich, dass dieses Argument von Jolly zur Rechtfertigung der öffentlichen Verhöhnung des Christentums gleichkommt. Nicht beten und sich über das Christentum lustig zu machen sind nun wirklich zwei paar Schuhe.

Stellen Sie sich vor, es wäre andersherum gewesen – wenn Christen sich über eine Szene lustig gemacht hätten, die queeren Menschen sehr am Herzen liegt, und dann gesagt hätten: „Oh, das wussten wir nicht, wir wollten niemanden verletzen, wir wollten nur inklusiv sein.“ Wer hätte ihnen geglaubt?

Tony Estanguet bestand darauf, dass die Sendung zum Nachdenken anregen sollte und dass ihre Grundzüge mit dem IOC abgesprochen waren. Wenn dem so ist, macht das den undiplomatischen Charakter dieses Verstoßes noch schlimmer! Und welche fruchtbaren Gedanken über das Christentum wollten sie anregen?

Jolly, der Choreograph, bestritt, vom letzten Abendmahl inspiriert worden zu sein: „Die Idee war, ein großes heidnisches Fest zu veranstalten, das mit den Göttern des Olymps in Verbindung gebracht wird.“ Warum hat dann praktisch jeder die Parallele zum Gemälde von Leonardo da Vinci erkannt? Warum spielt die Person in der Mitte so offensichtlich die Rolle von Jesus auf da Vincis Gemälde? Warum trägt das Drehbuch der gesamten Eröffnung – das inzwischen öffentlich ist – die Überschrift „La Cène sur la scène sur la Seine“ (Das letzte Abendmahl auf der Seine-Bühne)? Und noch einmal: Die Queer-Community hätte keine Entschuldigung akzeptiert, die sich auf ein „wir wussten es nicht“ stützt, wenn es umgekehrt gewesen wäre.

Jolly behauptete auch, dass er sich stattdessen an einem Gemälde von Jan van Bijlert, „Das Fest der Götter“, orientierte, dem der blaue Gott Bacchus am Ende der Szene entnommen wurde. Man muss über diese Erklärung schmunzeln, denn das Werk von van Bijlert wurde von da Vincis Gemälde des letzten Abendmahls inspiriert!

Da Vincis Bild ist in den letzten Jahrzehnten so oft missbraucht worden, dass niemand behaupten kann, nicht zu wissen, wie Christen darüber denken. Wer auch immer dies geplant hat, tat dies absichtlich, um ein maximales globales Interesse zu gewährleisten, indem er die größtmögliche Gruppe, d. h. ein Drittel der Weltbevölkerung, beschämt. Da die meisten Länder der Welt diese Präsentation bei einer Olympiade in ihrem Land nicht zugelassen hätten, war sie nur in dem Land möglich, das in dem Ruf steht, den höchsten Anteil an Kunst zu haben, die das Christentum beschämt.

Barbara Butch, die Hauptdarstellerin der Aufführung, nannte sich in einem Posting übrigens „Olympic Jesus“ und postete anschließend Bilder auf Instagram, auf denen sie die Szene als „Oh ja, das Neue schwule Testament“ bezeichnete.

Wenn bei der Zeremonie stattdessen ein Tanz um die Kaaba aufgeführt worden wäre und Muslime aus aller Welt protestiert hätten, hätten die Organisatoren dann gesagt, dass sie die Muslime einbeziehen wollten und nicht wussten, dass diese sich beleidigt fühlen würden? Hätte die Zeremonie mit einem Tanz um die Kaaba stattgefunden, hätten Kirchen in aller Welt zugunsten der Muslime ebenso protestiert wie gegen Jollys Arbeit.

Jolly erklärte auch: „Sie werden in meiner Arbeit niemals den Wunsch finden, jemanden zu verspotten oder zu verunglimpfen. Ich wollte eine Zeremonie, die Menschen zusammenbringt, die versöhnt, aber auch eine Zeremonie, die unsere republikanischen Werte der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bekräftigt.“ Eines ist wichtig: Queere Menschen und andere diskriminierte Gruppen nehmen die Tatsache ernst, dass es die diskriminierten Menschen sind, die entscheiden, ob sie sich diskriminiert fühlen oder nicht. Nach dieser Logik muss die Frage, ob sich Christen durch eine Karikatur des letzten Abendmahls beschämt fühlen, von den eigenen Gefühlen der Christen bestimmt werden und nicht von den theoretischen Absichten derer, die andere beschämen. Sollte es nicht gleiche Rechte für alle geben, auch für Christen? Sollten die Regeln, die für jeden gelten, der diskriminiert und beschämt wird, nicht auch für Christen gelten?

Die Organisatoren beriefen sich auch auf die künstlerische Freiheit. Kunstfreiheit als Argument für Diskriminierung? Was für ein Unsinn! Niemand spricht davon, solche Kunst per Gesetz zu verbieten. Es gibt Tausende von Orten, an denen diese Art von Darbietung gezeigt werden kann. Aber dies waren die Olympischen Spiele, wo die Kunst den Zielen des Friedens und der Harmonie dienen sollte. Oder wollen sie damit sagen, dass sie zu jeder Art von Diskriminierung hätten aufrufen können, solange sie sich der Kunst bedienten, um diese auszudrücken?

Die Kunstfreiheit und die Freiheit der Meinungsäußerung schließen das Recht ein, jede Kunst abzulehnen oder zu kritisieren, sie hässlich oder unmoralisch oder uninteressant oder zu teuer zu finden, oder sie aus irgendeinem Grund zu kritisieren. Aber offenbar sind die Täter durch die Einwände beleidigt und verlangen, nicht kritisiert zu werden.

Die Kunstfreiheit macht nicht automatisch Dinge moralisch. In Russland wird die Kunst benutzt, um den Krieg zu verherrlichen. Die Kunst wird von allen möglichen Diktatoren und Autokraten geliebt. Keines ihrer Versäumnisse wird moralischer, nur weil sie als Kunst präsentiert werden. Neonazi-Kunst in Deutschland ist größtenteils nicht illegal. Macht das die Sache besser?

Wann immer Kunst dazu benutzt wird, eine bestimmte Gruppe von Menschen zu beschämen, ist dies, auch wenn es rechtlich zulässig ist, dennoch moralisch falsch. Öffentlich zu sagen, dass alle glatzköpfigen Männer dumm sind, ist in den meisten Ländern aufgrund des Rechts auf freie Meinungsäußerung legal, und das gilt auch, wenn die Botschaft durch Kunst ausgedrückt wird. Das ändert jedoch nichts an ihrer unmoralischen und diskriminierenden Natur. Wäre es eine akzeptable Botschaft für die Er­öffnung der Olympischen Spiele gewesen, zu sagen, dass Glatzköpfe dumm sind, und dann zu behaupten, dass ihre Aussage durch die Kunstfreiheit und die Meinungsfreiheit geschützt ist?

Die negative Reaktion vieler Führer anderer religiöser Gruppen beweist, dass sie alle das Gefühl hatten, dass es darum ging, eine bestimmte Weltreligion zu verspotten, die zufällig die größte ist. Hätten die Organisatoren eine größere Gruppe als die 2,3 Milliarden Christen (31,3 Prozent der Weltbevölkerung) demütigen wollen, wäre die einzige Möglichkeit gewesen, alle Frauen oder alle Männer auszuwählen, da sogar die Zahl der Kinder und Jugendlichen auf der Welt etwas geringer ist als die Zahl der Christen.

Hätten die Organisatoren ein echtes Problem auf kontroverse Weise ansprechen wollen, hätten sie dies tun können. Sie wagten es nicht, eine Kritik zu äußern, die einen starken Widerstand ausgelöst hätte, wie etwa den Protest gegen Chinas Behandlung der Uiguren oder den Missbrauch von Minderjährigen durch religiöse Führer oder religiösen Extremismus in jeder Form. Stattdessen wählten sie den billigen und einfachen Weg, da sie wussten, dass Christen nicht mit Gewalt reagieren würden.

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht als ‚Lessons from the Olympic Ceremony Controversy‘ in Evangelical Review of Theology (2024) 48:4, 315–317.

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